Aufwertung der S1-Leitlinie zu einer S2k-Leitlinie
Am 23.05.2017 trat die neue S2k-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Lymphödeme in Kraft. Mehr Selbstmanagement des Patienten, patientenindividuellere Verordnungen und eine intensivere Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen Arzt, Therapeut und Fachhandel sind die Ziele und der Schlüssel zum Erfolg. Die Leitlinie wurde im Mai 2017 veröffentlicht und zu einer S2k-Leitlinie aufgewertet.
Inhalte Leitlinie Lymphologie
Die neue Leitlinie beinhaltet sieben Kapitel. Leitlinien sind für den Arzt nicht rechtsverbindlich, jedoch wichtige Orientierungshilfen im Therapieverlauf: im Sinne von „Handlungs- und Entscheidungskorridoren“, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss.
Wichtige Aspekte der Leitlinie als Übersicht:
Basisdiagnostik und weiterführende Diagnostik
Zur Basisdiagnostik sollten Anamnese, Inspektion und Palpation durchgeführt werden (in dieser Reihenfolge und anhand der Checkliste).
Ziel sollte eine klinische Beurteilung hinsichtlich Ätiologie, patient-reported Outcome, Stadium und Lokalisation des Lymphödems sein. Die Basisdiagnostik bietet ausreichend Sicherheit für die Diagnosestellung, wenn keine relevanten Komorbiditäten vorliegen und sich das Lymphödem in einem fortgeschrittenen Stadium (ab Stadium II) befindet.1 Kann durch die Basisdiagnostik keine eindeutige Diagnose gestellt werden, werden verschiedene Methoden der weiterführenden Diagnostik empfohlen.2
Konservative Therapie – KPE als Standardtherapie
Die Standardtherapie ist die Komplexe Physikalische Entstauungstherapie (KPE). Diese besteht aus fünf aufeinander abgestimmten Komponenten und gilt als 2-Phasen-Therapie.3
Eine unverzichtbare Komponente ist die Kompressionstherapie. Ihre Wirkungen sind u. a.4:
- Normalisierung einer pathologisch erhöhten Ultrafiltration
- Verstärkter Einstrom der interstitiellen Flüssigkeit in die initialen Lymphgefäße
- Erhöhung des Lymphflusses in den noch funktionierenden Lymphgefäßen
- Reduzierung des venösen Drucks und damit eine antiödematöse Wirkung
- Verbesserung der Gewebebefunde in Phase II
Während in Phase I mehrlagige Wechselverbände angewendet werden, sollen Patienten in der langfristig ausgerichteten Phase II, der sogenannten Erhaltungsphase, nach Maß angefertigte, flachgestrickte medizinische Kompressionsstrümpfe tragen. Weitere Informationen zur KPE Therapie.
Chirurgische Therapie
Eine operative Therapie sollte erst nach leitliniengerechter ambulanter und/oder stationärer KPE Phase I und II von mindestens sechs Monaten Dauer angeboten werden. Der Effekt der konservativen Therapie sollte abgewartet werden. Operative Maßnahmen sollten dann in Betracht gezogen werden, wenn ein Patient trotz leitliniengerechter konservativer Therapie und Therapieadhärenz einen Leidensdruck oder eine Zunahme von sekundären Gewebeveränderungen aufweist.5
Primärprävention
Die Primärprävention setzt vor dem Auftreten klinischer Krankheitssymptome ein. Ziel der Primärprävention ist damit die Entstehung einer Erkrankung durch den Einsatz entsprechender Präventivmaßnahmen zu verhindern.
Zielgruppen sind Patienten mit Lymphödemrisiko beziehungsweise Patienten im Latenzstadium des Lymphödems, beispielsweise onkologische Patienten nach Interventionen, die das Lymphgefäßsystem beeinflussen können. Bei diesen Risikopatienten soll eine umfassende Aufklärung über das Erkrankungsrisiko, zusätzliche Risikofaktoren und die Art und Symptome der Erkrankung Lymphödem erfolgen.6
Psychosoziale Aspekte
Psychisch belastete Lymphödempatienten mit psychologischer Mitbehandlung erzielen signifikant bessere Rehabilitationsergebnisse als psychisch belastete Patienten ohne psychologische Mitbehandlung.7
Lesen Sie dazu mehr im Interview mit Marianna Dutton, leitende psychologische Therapeutin an der Földi-Klinik
Interview zur S2k-Leitlinie mit Dr. med Anya Miller
Dr. med. Anya Miller entwickelte die Leitlinie als Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lymphologie (DGL) maßgeblich mit.
Mit medi sprach sie über die Chancen, die sich aus der neuen Leitlinie ergeben und erklärt, weshalb Patienten mehr Verantwortung übertragen werden sollte, um sie aktiv in die Therapie einzubinden.
Was sind die wichtigsten Neuerungen innerhalb der optimierten Leitlinie?
„Wir haben die gesamte Lymphödem-Behandlungskette neu definiert. Die erste Version der Leitlinie stammt aus dem Jahr 2000. Viele aktuelle operative und diagnostische Verfahren gab es damals noch nicht. Eine wichtige Rolle in der Lymphtherapie nimmt die Komplexe Physikalische Entstauungstherapie (KPE) ein. Diese ist nun klar dargestellt.
Außerdem wurde das Selbstmanagement der Patienten in den Mittelpunkt gerückt. Die neue Leitlinie bildet den aktuellen wissenschaftlichen Stand ab und räumt mit veralteten Ansichten auf. Beispielsweise bei einem Erysipel (Wundrose): Das ist eine bakterielle Infektion im Unterhautfettgewebe, die mit Antibiotika behandelt wird. Früher wurde die Lymphdrainage dabei für mehrere Wochen ausgesetzt. Heute sehen wir das anders. Das Antibiotikum greift in der Regel bereits nach zwei Tagen. Dann sollte die Therapie mit der manuellen Lymphdrainage fortgesetzt werden.“
Welche Rolle spielt das Selbstmanagement des Patienten im Rahmen der Therapie?
„Die Therapie steht und fällt mit der Mitarbeit des Patienten. Das Behandlungsteam aus Arzt, Therapeut und Fachhandel muss ihn konsequent aufklären. Der Patient sollte zumindest teilweise lernen, wie er sich selbst behandelt. Er muss die Therapiebausteine verstehen und in der Lage sein, einen Kompressionsverband auch mal selbst anzulegen. Dann erkennt er auch, wie wichtig Bewegung ist, trägt seine Kompression regelmäßig und kümmert sich zeitnah um neue Strümpfe. So wird ein Teil der Verantwortung auf den Patienten übertragen – und das macht ihn unabhängiger.“
Was ändert sich durch die neue Leitlinie für den behandelnden Arzt?
„Als Arzt muss ich den Patienten gründlich aufklären und ihn immer wieder zur Mitarbeit auffordern. Das ist zwar zunächst Mehrarbeit, entlastet uns aber letztendlich. Wenn der Patient aktiv mitarbeitet und dadurch weniger Komplikationen auftreten, kommt er auch seltener in die Praxis. Das kann dazu führen, dass Ärzte weniger Lymphdrainagen verschreiben und wirtschaftlich entlastet werden. Und es macht doch viel mehr Spaß, mit einem aufgeklärten Patienten zu arbeiten!
Außerdem betont die Leitlinie, dass immer eine ausreichende Versorgung vorliegen muss. Das kann auch eine Kombination aus Hose und Strümpfen sein. Wichtig ist, dass der Patient über ausreichend Wechselversorgungen verfügt, nur dann trägt er die Strümpfe jeden Tag. Momentan ist das noch knapp bemessen. Dabei trägt jeder gesunde Mensch auch mehr als nur drei Paar Strümpfe in einem Jahr.“
Welche Position nimmt der Fachhandel dabei ein?
„Der Fachhandel ist natürlich ebenfalls dazu aufgerufen, den Patienten aufzuklären. Er kontrolliert die Passform, erklärt wie die Strümpfe an- und abgelegt werden, wie sie sitzen sollten und gibt Tipps zur Hautpflege. Im Idealfall erinnert der Verkäufer den Patienten auch daran, dass es Zeit für ein neues Paar Strümpfe ist. Außerdem ist es wichtig, dass der Fachhandel darüber hinaus noch Informationen dazu liefert, welche Rolle die medizinische Wirksamkeit, der Tragekomfort und die modische Akzeptanz der Strümpfe für die Therapietreue der Patienten spielen.
Wenn ich meine Neupatienten beispielsweise frage, ob sie schon einmal Kompression getragen haben, sagen die meisten: ‚Ja, aber die Strümpfe haben nicht richtig gesessen und deshalb habe ich sie nie angezogen.‘ Da sehe ich den Fachhandel in der Pflicht. Wird ein Kompressionsstrumpf abgegeben, muss der Verkäufer einen Termin zur Passformkontrolle vereinbaren und bei Bedarf auch Rücksprache mit dem Arzt halten.“
Tipp: Hier geht's zur Farbauswahl für die Ödemtherapie
Können Hersteller die Therapie durch mehr Farben und Muster unterstützen?
„Ja, denn diese Faktoren sind für Patienten ganz wichtig. Die einen mögen auffällige Strümpfe, andere wollen es dezenter. Eine große Auswahl steigert die Akzeptanz der Kompressionstherapie.
Wenn ich einen Strumpf schön finde, trage ich ihn gerne. Auch die Passform ist entscheidend. Selbst wenn eine Versorgung vielleicht dreimal nachgebessert wird: Sitzt sie dann optimal, akzeptiert der Patient den Strumpf und sagt vielleicht: ‚Der Strumpf hat super gepasst, so einen möchte ich wieder.“
Was bedeutet ein stärkeres Selbstmanagement der Patienten für Therapeuten?
„Sie bringen dem Patienten bei, wie er sich selber behandeln kann, zum Beispiel beim Wickeln der Bandagen oder durch Atem-Training, das den Lymphabfluss unterstützt. Sie sind auch diejenigen, die den Patienten in der Regel am häufigsten sehen.
Der Therapeut holt sich regelmäßig Feedback: Funktioniert die Therapie, kommt der Patient mit der Versorgung zurecht, hat er stark zugenommen und brauchen wir vielleicht Hilfe aus einem anderen medizinischen Bereich? Als ständige Kontaktperson zum Anwender kommt dem Therapeuten eine ganz wichtige Funktion in der Lymphtherapie zu.“
Welche Verbesserungen erhoffen Sie sich von der Leitlinie für Ihre tägliche Arbeit?
„Ich hoffe, dass wir zukünftig noch befundabhängiger verordnen. Die KPE muss nicht zwingend zweimal pro Woche stattfinden, sondern so, wie es die individuelle Erkrankung und die Lebensumstände des Patienten erfordern. Ein Ödem ist im Sommer meist stärker ausgeprägt als im Winter – also brauche ich im Winter vielleicht weniger Lymphdrainagen. Ist der Patient im Urlaub, kann er die Beine öfter hochlegen oder schwimmen gehen. Auch dann kann gegebenenfalls auf die zwei Termine pro Woche verzichtet werden. Ist es hingegen extrem heiß und sind die Beine zum Beispiel durch eine Verletzung besonders stark geschwollen, empfehlen sich mehr als zwei Lymphdrainagen pro Woche.
Wir schauen also, wie die aktuelle Situation aussieht und entscheiden individuell. So richten wir die Therapie noch stärker an den Bedürfnissen jedes einzelnen Patienten aus, erreichen mehr Akzeptanz für die Kompressionsversorgung und dadurch mehr Therapietreue.
Die neue Leitlinie bietet Kostenträgern außerdem eine saubere Grundlage für Verhandlungen. Ich denke, dass die Leitlinie die Lymphologie innerhalb der Medizin besser positioniert und aufzeigt, mit wie vielen anderen Fachgebieten sie zusammenhängt. Die Leitlinie bildet die Basis für mehr Bewusstsein und Sensibilität sowie für mehr Informationen für Arzt, Therapeut, Fachhandel und Patient.“
Frau Dr. Miller, vielen Dank für das Gespräch.
Hier geht es zur neuen Leitlinie.
Dr. med. Anya Miller
Anya Miller studierte in Gießen Medizin. Sie absolvierte ihre phlebologische Ausbildung bei Prof. Dr. Wolfgang Hach.
Dr. Miller ist niedergelassene Dermatologin in ihrer eigenen Praxis „die hautexperten“ in Berlin mit dem Spezialgebiet Lymphologie und der Zusatzqualifikation Phlebologie.
2016 übernahm sie die Präsidentschaft der Deutschen Gesellschaft für Lymphologie und ist darüber hinaus Mitglied in weiteren Fachgesellschaften. Außerdem ist sie Mitherausgeberin des „Leitfaden Lymphologie“, der im Elsevier Verlag erscheint.
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Quellen anzeigen
1-7 S2k Leitlinie Diagnostik und Therapie der Lymphödeme, AWMF Reg.-Nr. 058-001, S. 16 ff, S. 21 ff., S. 36 ff., S. 39 ff., S. 48 ff., S. 53 ff., S. 63